Wie überwinden wir die Staatsschuldenkrise im Euroraum und wie gelingt es, den Euro zu stabilisieren? Das Thema treibt mich und viele Menschen im Wahlkreis um. Welche Vereinbarungen wurden zuletzt mit Blick auf den Europäischen Stabilitätsmechanismus in Kopenhagen getroffen?
Antworten gibt das nachfolgende Schreiben unseres Bundesfinanzministers Dr. Wolfgang Schäuble, das er meinen Fraktionskollegen und mir hat zukommen lassen.
"Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
in den vergangenen Wochen sind wir auf dem Weg zur Überwindung der Staatsschuldenkrise im Euroraum weiter vorangekommen. Es wäre verfrüht, jetzt schon Entwarnung zu geben. Doch zeigt sich deutlich, dass unser Ansatz greift und Vertrauen in die Architektur der Eurozone zurückkehrt.
Zentrale Ursachen der Krise sind die über viele Jahre zu hohen Defizite in den öffentlichen Haushalten und eine zu geringe wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit in einigen Staaten der Eurozone. Eine nachhaltige Lösung kann nur an diesen Ursachen ansetzen. Es war richtig, dass wir konsequent auf diesen Zusammenhang hingewiesen und keine Lösungen akzeptiert haben, bei denen nur die Symptome der Krise bekämpft worden wären. Hätten wir in den vergangenen Monaten den Vorschlägen nach Einführung gemeinsamer europäischer Staatsanleihen (Euro-Bonds) nachgegeben, wären die Unterschiede in den Zinssätzen eingeebnet worden. Ohne eine europäische Finanzarchitektur, die die Schuldenaufnahme strikt begrenzt, hätte eine solche Vergemeinschaftung von Haftung den Reformdruck spürbar verringert. Auf diese Weise wären Anreize gesetzt worden für eine beschleunigte Ausweitung der Verschuldung und damit für eine erhebliche Beeinträchtigung der Chancen auf nachhaltiges Wachstum und sichere Arbeitsplätze in Europa.
Der wichtigste Baustein zur Überwindung der Krise sind und bleiben die finanz- und wirtschaftspolitischen Reformen in den Staaten, die am stärksten in den Fokus der Finanzmärkte und der weltweiten Öffentlichkeit geraten sind. In Irland und Portugal zeigt sich, dass die mit der internationalen Gemeinschaft vereinbarten Anpassungsprogramme funktionieren können. Die irische Wirtschaft befindet sich seit 2011 wieder auf moderatem Wachstumskurs. Auch andere Länder wie Spanien und Italien haben in den letzten Monaten wichtige Maßnahmen ergriffen, um Defizite zu reduzieren und Wachstumsperspektiven durch Strukturreformen zu verbessern. Trotz konjunkturellen Gegenwindes hat die spanische Regierung am 29. März einen ambitionierten Haushaltsentwurf verabschiedet, mit dem das übermäßige Defizit entsprechend der europäischen Vorgaben bis 2013 beseitigt wird. Griechenland hat nach einer erfolgreichen Beteiligung des Privatsektors an den Anpassungslasten eine neue Chance, zu einer tragfähigen Entwicklung zu kommen, wenn es die vereinbarten Maßnahmen konsequent umsetzt.
Weil die hohe Staatsverschuldung in den Industriestaaten nach der Finanz- und Bankenkrise 2008 und 2009 sehr abrupt in den Fokus der Finanzmärkte gerückt ist, war es notwendig, Brandmauern innerhalb der Eurozone zu errichten, um Ansteckungsgefahren im Euro-System als Ganzem entgegen zu treten. Wir haben den in besondere Schwierigkeiten geratenen Euro-Ländern mit Kreditlinien Zeit gekauft, die sie nutzen müssen, um ihre Probleme zu lösen. Europa nutzt diese Zeit auch dafür, mit einer dauerhaften Stabilitätsunion das fehlende Gegenstück zur gemeinsamen Geldpolitik zu schaffen. Noch vor einem Jahr wäre es kaum denkbar gewesen, dass alle Länder der Eurozone und acht weitere Länder der Europäischen Union sich dazu verpflichten, in ihren nationalen Rechtsordnungen Schuldenbremsen zu verankern, die der Schuldenbremse des deutschen Grundgesetzes ähnlich sind. Diese Vereinbarung tritt neben die vielfältigen Ansätze, dem Stabilitäts- und Wachstumspakt mehr Biss zu verleihen - durch frühzeitigeres Handeln, durch quasi-automatische Sanktionen und durch eine Erweiterung des Fokus auf gesamtwirtschaftliche Fehlentwicklungen.
Das Einziehen von Brandmauern innerhalb der Währungsunion - dazu gehören auch die verschärften Eigenkapital-Vorgaben für Banken, um deren Verlusttragfähigkeit zu stärken - ist richtig, damit Probleme in Teilen der Eurozone sich für jeden erkennbar nicht zu einer Krise des Euro auswachsen können. Dazu haben wir 2010 den vorläufigen Rettungsschirm geschaf-fen (Europäische Finanzstabilisierungsfazilität EFSF der 17 Euro-Staaten und Europäischer Finanzstabilisierungsmechanismus EFSM aus dem Haushalt der Europäischen Union). Inzwischen wurde beschlossen, einen dauerhaften Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM mit einem auf 500 Mrd. Euro begrenzten Ausleihvolumen einzurichten. Im Dezember 2011 wurde vereinbart, dass das potentielle Ausleihvolumen dieser Instrumente im März 2012 noch einmal überprüft wird. Diese zeitliche Abfolge war deswegen erforderlich, weil zuerst die oben genannten Voraussetzungen zur Ursachenbekämpfung zu schaffen waren. Es war uns wichtig, zunächst die Verhandlungen zum europäischen Fiskalvertrag abzuschließen, weil die Brandmauern dauerhaft nur dann einen sinnvollen Beitrag leisten können, wenn der Weg zur Stabilitätsunion unumkehrbar wird.
Die Finanzminister der Euro-Staaten haben die Überprüfung des potentiellen Ausleih-volumens von EFSF und ESM am vergangenen Freitag abgeschlossen. Wir haben drei wesentliche Punkte vereinbart, die bereits in der letzten Woche mit Ihnen erörtert worden sind:
Erstens haben wir die maximale Kreditvergabekapazität des ESM bei 500 Mrd. Euro belassen.
Zweitens werden die bereits zugesagten Kreditlinien aus der EFSF in Höhe von rund 200 Mrd. Euro für Irland, Portugal und Griechenland II nicht mehr auf den ESM angerechnet, um die maximale Kreditvergabekapazität des ESM nicht schon zu seinem Start auf rund 300 Mrd. Euro zu reduzieren. Und drittens laufen daneben auch die - vor Gründung der EFSF - im Rahmen des ersten Griechenlandprogramms von den Euro-Staaten bilateral vergebenen Kredite (53 Mrd. Euro) sowie die an Irland und Portugal zusätzlich zur EFSF über den EFSM eingeräumten Kreditlinien (49 Mrd. Euro) bis zu ihrer Fälligkeit weiter. Auf diese Weise ergibt sich zusammen mit der maximalen Kreditvergabekapazität des ESM von 500 Mrd. Euro ein Volumen von rund 800 Mrd. Euro. Vor diesem Hintergrund bin ich zuversichtlich, dass auch der Internationale Währungsfonds IWF in bewährter Weise die europäischen Instrumente durch weitere eigene Mittel flankieren wird.
Nachdem der vereinbarte Start des ESM von Mitte 2013 auf Mitte 2012 vorgezogen wurde, kommt es zu einer einjährigen Überlappung von EFSF und ESM. Sollte es in dieser Zeit notwendig werden, für neue Programme Kredite zur Verfügung zu stellen, wird vorrangig auf den ESM zurückgegriffen. Der Aufbau des ESM wird beschleunigt, indem nicht nur 2012, sondern auch 2013 jeweils zwei der fünf Raten seiner Kapitaleinzahlung geleistet werden sollen. Mit der fünften Rate 2014 ist der Aufbau abgeschlossen. Die verbleibenden, noch nicht durch Kreditzusagen gebundenen rund 240 Mrd. Euro aus der Kreditvergabekapazität der EFSF dürfen nur nachrangig eingesetzt werden, um die Kreditvergabekapazität von 500 Mrd. Euro auch in der Aufbauphase des ESM zu sichern.
Für Deutschland bleibt es bei einem Kapitalanteil am ESM in Höhe von 190 Mrd. Euro, von denen 22 Mrd. Euro zwischen 2012 und 2014 einzuzahlen sind, während 168 Mrd. Euro als abrufbares Kapital im Fall von Nachschusspflichten aktiviert werden müssten. Die im ersten Griechenlandprogramm gebundenen Garantien in Höhe von 15 Mrd. Euro, die durch Kreditzusagen der EFSF gebundenen Garantien in Höhe von 95 Mrd. Euro und die in den Kreditzusagen des EFSM gebundenen rechnerischen Anteile am EU-Haushalt in Höhe von zehn Mrd. Euro werden nach Rückzahlung der - teilweise langfristigen - Kredite abgelöst.
Der nun auf europäischer Ebene gefundene Kompromiss entspricht dem deutschen Verhandlungsvorschlag, den ich in der vergangenen Woche in den Fraktionsgremien und auch im Deutschen Bundestag vorgestellt habe. Ich halte diesen Kompromiss für eine gute Lösung, weil der Stabilitätsmechanismus ESM nun zügig und ohne Vorbelastung durch umfangreiche Kreditzusagen starten kann.
Der ESM ist damit auch dauerhaft gut genug ausgestattet, um eine hinreichende Abschreckungswirkung zu entfalten. Kritische Stimmen, nach denen die Brandmauer angeblich nicht hoch genug ist, wird es immer geben, und zwar völlig unabhängig davon, wie hoch sie jemals ist. Solche Stimmen verkennen, dass ein Rettungsschirm immer nur ein ergänzendes Instrument sein kann.
Er kann überhaupt nur dann zur Wiederherstellung von Vertrauen beitragen, wenn die nationalen Reformen in den Krisenländern glaubwürdig bleiben und die gemeinsame Arbeit an einer künftigen Stabilitätsunion in Europa nachhaltig ist.
Die Reformen sind kein Selbstzweck. Es hat sich gezeigt, dass die übermäßige Staatsverschuldung in den Industrieländern eine Bedrohung für nachhaltiges Wachstum darstellt. Eine glaubwürdige Rückführung der hohen Verschuldungsquoten ist notwendige Voraussetzung, damit Europa dauerhaft attraktiv ist für Investitionen. Deutschland hat in den vergangenen beiden Jahren gezeigt, dass eine angemessene Defizitreduzierung in Verbindung mit einem glaubwürdigen verschuldungsbegrenzenden Rechtsrahmen zu hohem Wirtschaftswachstum beitragen kann. Die Anpassungsprogramme der unter einem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit leidenden Staaten enthalten Reformen auf den Arbeits-, Güter- und Dienstleistungsmärkten, um Wachstumshemmnisse zu beseitigen. Die Staaten müssen nun die Gelegenheit ergreifen,
Versäumtes nachzuholen. Dann besteht die Chance auf ein nachhaltiges Wachstum, das Arbeitsplätze wesentlich sicherer werden lässt als es jedes kreditfinanzierte Ausgabenprogramm vermögen könnte. Wenn die besonders im Fokus stehenden Staaten die Reformen fortsetzen und die Europäer gemeinsam das Regelwerk der Eurozone hin zu einer echten Stabilitätsunion verbessern, dann haben alle europäischen Staaten die Aussicht auf eine Reformdividende in Form nachhaltigen Wohlstands und sicherer Arbeitsplätze.
Mit freundlichen Grüßen
W. Schäuble"
Weitergehende Informationen finden Sie unter der Themenseite des Bundesfinanzministeriums: Stabilisierung des Euro